Friedhof Zingst
  Startseite

Grabstätten

Friedhofslageplan

Service

Geschichte

  • über den Friedhof

  • Lebensläufe

Kontakt

Lebensläufe von in Zingst bestatteten Bürgern
Grabstelle 78/80
Gerhard Krause (1887-1950)
1934 bis 1950 Pfarrer in Zingst
von Harald Apel

Pfarrer Gerhard Krause„Prüfet, die Geister, ob sie von Gott sind“

Ein Pfarrer will nicht schweigen

Die folgenden drei Geschichten erzählen vom Zingster Pfarrer Gerhard Krause. In dem Buch „Erzähl, dass ich es glauben kann…“ wurden sie 2013 im Verlag Herder veröffentlicht. (ISBN 978-3-451-31162-8) Sie beruhen auf überlieferten und recherchierten Fakten.

In der Zeit von 1934 bis 1950 erlebt Gerhard Krause, was Menschen geschieht, die sich gegen Diktaturen stellen. Für das, was er als wahr erkannt hat, soll er mit seinem Leben bezahlen. Früh widerspricht er den Nazis in diesem kleinen Ostseeort. Denn Zingst ist sein Zuhause. Er kennt die Menschen hier schon seit seiner Kindheit. Als er 1934 hier die Pfarrstelle übernimmt, kommt er zugleich zurück in sein Elternhaus. Schon sein Vater ist hier vor über 50 Jahren Seelsorger gewesen. Hier ist er im Sommer 1887 geboren. Ein Jahr nach seiner Heimkehr ins Elternhaus und Pfarramt, im Frühjahr 1935 lernt er D. Bonhoeffer kennen. Der junge und kluge Theologe stärkt ihn in seinem Glauben, dass man Gott mehr gehorchen muss als Menschen. Oft hat sich Gerhard Krause mit seiner Haltung zu den Nazis sehr allein gefühlt. Viele seiner Kollegen in der Umgebung stehen damals noch treu zum Führer des Deutschen Volkes Adolf Hitler. Durch Bonhoeffer, der im April 1935 eine Gruppe von jungen Theologen der Bekennenden Kirche auf dem Zingsthof zu unerschrockenen Predigern ausbilden soll, schöpft Pfarrer Krause Mut und Hoffnung. So wie er es von Anfang an für seinen Beruf entschieden hat, will, ja muss er die Wahrheit sagen. Unerschrocken widerspricht er in Gemeindeveranstaltungen und Predigten dem, was in dieser Zeit die meisten sagen. Er stellt sich mit seinen Worten gegen das, was in den Nazizeitungen steht und was die Leute der NSDAP in Zingst behaupten. Was wahr, gerecht und gut ist, ist nicht das, was die Mehrheit sagt, sondern was ihm Gott in der Bibel sagt. Diese Überzeugung ist in der Zeit des Faschismus nicht ungefährlich. Lange Zeit wird er von den Mächtigen beobachtet. Sie wollen ihn mit seiner Überzeugung isolieren. Schulbeirat darf er nicht werden. Trotz seiner Haltung wagen sie es lange Zeit nicht, ihn zu verhaften. Das würde viel Aufsehen und Unruhe in den Ort bringen. Doch je offensichtlicher wird, was Pfarrer Krause laut sagt, umso gefährlicher wird er für die Männer der mehr und mehr bröckelnden Macht. Genau ein Jahr vor Kriegsende, wird er verhaftet und ins Stralsunder Untersuchungsgefängnis gebracht. Hier wird die Anklage gegen ihn vorbereitet. Bevor es mit Hitler und seinen Gefolgsleuten zu ende geht, will man Rache an denen nehmen, die nicht im Gleichschritt ins Verderben marschieren wollen. Bonhoeffer wird wenige Tage vor Kriegsende hingerichtet. Auch Pfarrer Krause droht dieses Schicksal. Obwohl es kaum noch eine öffentliche Ordnung gibt, wird in den letzten Monaten des Krieges ein Prozess wegen Wehrkraftzersetzung gegen ihn vorbereitet.

Der Preis der Wahrheit

Das Auto kreuzt langsam die fast leere Geschäftsstraße. Nun hält es kurz vor einem Backsteinhaus mit großen Fenstern. „Wie ein Untersuchungsgefängnis sieht das aber nicht aus“, denkt Pastor Krause. Etwas verblüfft macht er sich fertig zum Aussteigen. Doch einer der beiden Begleiter greift seinen Arm und sagt nur: „Sitzenbleiben!“ Eine große dunkelgrüne Eisentür, die fremd in dem alten Bürgerhaus wirkt, wird geöffnet. Das Auto fährt langsam auf den Hof. „So jetzt raus, Krause!“ schnauzt der eine Sicherheitsbeamte, während der Fahrer im Haus verschwindet. Hinter der biederen Fassade zur Stadt liegt hier eine in sich abgeschlossene fremde Welt. Befehle hecheln die Wände entlang. Laute Worte brechen sich am Gemäuer. Es hallt und schallt, wenn Worte in die Enge getrieben werden. Nicht einmal die Gedanken sind frei. Sie werden im Gleichschritt zertreten. Untersuchungshäftling Krause sieht die Reihe der vergitterten Fenster hinauf. Über dem Gemäuer treibt ein kleines Stück Himmel mit vom Mond beschienenen Wolken, die an Sternen vorbeiziehen. Seit dem 8. Mai 1944 vermischen sich für den Zingster Pastor Sehnsucht und Angst in diesen Blicken. An jenem Frühlingstag wurde er verhaftet. Seit dieser Zeit ist er nur noch Häftling. Auch im Stralsunder Untersuchungsgefängnis, von dem aus er hierher zum Prozess überführt wurde, gab es jenes kleine Stück Freiheit des Himmels. Inzwischen kommt der andere Begleiter zurück: „Trakt B. Wir sollen ihn unten in der Wache abgeben.“ Die zwei führen ihren Untersuchungshäftling noch weiter ins Jenseits seines normalen Lebens. Wobei in dieser Zeit schon ein normales Leben jenseits der Normalität ist. Normales Leben gibt es in Deutschland nicht mehr. Leben heißt Überleben. Normal sind Wunden und Tod. Angst und Hunger. Bomben und Ruinen. Seit über 5 Jahren ist Krieg. Vom Größenwahn getrieben war man in den Krieg gezogen, aber nun kam der Krieg zurück. Fast alles war in sein Gegenteil umgeschlagen. In den ersten Kriegsjahren herrschte überall Siegesstimmung, jetzt herrschte überall Verzweiflung und Ratlosigkeit. Deutschland, durch das die ganze Welt gesund werden sollte, lag krank und im Sterben. Sirenen heulten. Flugzeuge dröhnten. Vom Himmel fiel der Tod. Häuser brannten. Menschen starben. Und alles schien nur schlimmer und schlimmer zu werden. Außerdem war das Leben nicht nur von Krieg und Bomben bedroht. Je aussichtloser der Sieg wurde, umso lauter versprach man ihn und ging gegen alle vor, die daran zweifelten. Der Feind stand, laut Zeitung und Radio, jetzt sogar im eigenen Land. Und nicht nur an der immer näher rückenden Front, sondern hier musste er mit aller Macht besiegt werden, ohne Rücksicht, ohne Gnade, ohne Ansehen der Person.

So war aus dem Seelsorger der Kirchengemeinde Zingst ein Staatsfeind geworden. Der Geistliche des kleinen Ostseebades sollte mit schuld sein, dass der Sieg immer ferner rückte. Er war des schwersten Verbrechens dieser heillosen Tage angeklagt worden und dieses Verbrechen hieß: „Wehrkraftzersetzung“. Zum ersten Mal hatte es der Gestapobeamte in Stralsund nach jenen Vorwürfen wie ein unheilvolles Urteil gesprochen, nachdem er gelesen hatte, wessen Pastor Krause angeklagt war. Später wurde es von dem hageren Justizbeamten immer wieder so hysterisch geschrien, als sei er persönlich beleidigt worden. Beim ersten dieser Wutausbrüche hatte Pfarrer Krause noch entgegnet: „Ja, die Wahrheit tut weh!“ Aber das hatte er dann bitter büßen müssen. Inzwischen hat er immer wieder erfahren, was er zuvor nie gedacht hätte. Recht, Wahrheit ja bis zum guten Benehmen war alles außer Kraft gesetzt. Durch wahre Worte war sein ganzes Leben zur Schande erklärt worden. Weil er nicht lügen, weil er nicht heucheln wollte, nannte man ihn einen Verbrecher. Er war aus einem geachteten guten Leben in eine kleine graue Zelle mit vergitterten Fenstern gesperrt worden. Für die Freiheit seiner Worte hatte man ihm kurzerhand die Freiheit genommen. Anfangs im Untersuchungsgefängnis Stralsund hatte er hin und wieder noch eine paar Fragen gestellt. Doch immer deutlicher wurde; es ging hier nicht um das, was alle sehen konnten, sondern um das, was alle glauben sollten. „Der Krieg wird gewonnen!“ Wenn Wirklichkeit und Wahrheit dieses Glaubensbekenntnis der Nazis widerlegten, dann galt es entweder zu schweigen oder mit umständlichen Erklärungen zu beweisen, dass der Endsieg trotzdem nah war. Wer gegen diesen Grundsatz verstieß, war ein Volksfeind. Pastor Krause hatte nur laut gesagt, was viele dachten, aber nicht sagten: „Nur mit Rückzügen könne man keinen Krieg gewinnen.“ Für diesen und einige andere wahre Worte war er von der Gestapo abgeholt worden. Der Untersuchungsbeamte hatte bei der Vernehmung gefragt, ob er als Pastor den deutschen Generälen etwa eine „Frontbegradigung“ verbieten wolle. Mit diesem Begriff erklärte man, wenn sich deutsche Truppen wieder und wieder zurückziehen mussten. Naiv und ohne zu ahnen, was er mit dieser Frage auslösen würde, hatte Pfarrer Krause gefragt: „Warum müsse man denn eine Front begradigen?“ Doch als würde man ihm an die Kehle gesprungen sein, hatte der Gestapomann das erste Mal vollständig die Fassung verloren und geschrien: „ Hier gibt es keine Fragen, nach dem Warum!“ Nach diesem Verhör hatte der Geistliche all seine Ohnmacht begriffen. Hier galt nichts mehr. Hier hatte man allem den Krieg erklärt. Der Wahrheit , dem Verstand, der Achtung und der Gerechtigkeit. Immer wieder hatte sich Pfarrer Krause gefragt, ob dies alles nicht ein viel zu hoher Preis für die Wahrheit war. Aber jetzt war er ins Räderwerk des Hasses geraten und das ließ nicht mehr aufhalten. Die Gewalt der noch Mächtigen sollte ihn zum Schweigen bringen. Als man dem Pastor die Anklageschrift vorlas, konnte der kaum fassen, wie sehr man ihn wegen der Wahrheit hasste. Was wie ein Alptraum schien, wurde immer deutlicher: Nein, hier gab es kein Warum mehr. Hier war man bereit, die Wahrheit mit dem Tod zu bestrafen. Gerhard Krause konnte mit der Wahrheit auch vor sich selbst nicht Halt machen. Wenn die Anklage „Wehrkraftzersetzung“ hieß, dann war das das größte vorstellbare Verbrechen. Denn das Urteil würden die sprechen, die schon bald den Krieg verlieren würden. Wie verwundete Bestien schrien sie nach seinem Tod. Jetzt, wo er von Stralsund nach Potsdam in die Untersuchungshaft gebracht worden war, schien die unwirkliche Wirklichkeit ihn schon ganz verschluckt zu haben. Er war ein Niemand, ein Verbrecher, einer der nach den Gesetzen dieses Reiches, den Tod verdiente. Am Morgen des nächsten Tages sollte die Verhandlung vor dem Volksgerichtshof stattfinden.

Gerhard Krause geht jetzt neben seinen Bewachern in die Vorhöfe der erbarmungslosen Rache. Wenig später sitzt er in Sträflingskleidung in einer grell erleuchteten, kargen Zelle,- er, der sonst den Talar in der Kirche in Zingst getragen hatte. Aus seinem Namen ist eine Nummer geworden. Ein Blechgeschirr und ein Löffel sind das einzige Persönliche, was man ihm zugebilligt hat. In diesen Wänden um fünf Quadratmeter Steinfussboden soll er allein mit sich sein, sollte spüren wie ohnmächtig und bedeutungslos er ist. Alles was herausführen könnte, ist vergittert und verriegelt. Häftling Krause soll begreifen: Du gehörst nicht mehr mit dazu. Trotzdem sitzt er auf einem Hocker und versucht sich gegen all das zu wehren. Er weiß, dass er nichts Faires, nichts Gerechtes morgen bei der Verhandlung zu erwarten hat. Aber vielleicht darf er am Leben bleiben. Vielleicht erkennen auch seine Ankläger endlich, was doch ganz deutlich ist. Vielleicht ist er der erste, den sie aus Einsicht davon kommen lassen. Jeder sieht doch, dass dies hier alles bald zu Ende ist. Schon sein Verteidiger hat auf Zeit gespielt, indem er immer neue Beweisanträge stellte. Aber was ist hier der Wunsch des Häftlings und was ist die Wahrheit seiner Gegner? Gerhard Krause will nicht ohne Hoffnung bleiben. Die quälenden Gedanken übertönt ein lauter Befehl. „Nachtruhe vorbereiten!“ brüllt ein Aufseher über den Flur. Ja, Gerhard Krause will trotz allem schlafen. Schlaf ist die einzige Fluchtmöglichkeit aus einer Gegenwart, die wie ein Alptraum ist. Geräusche hallen über den Flur. Zellen werden geöffnet und verschlossen. Schlüsseln klappern. Dann wird die Tür geöffnet, die Pritsche wir heruntergeklappt und der Aufseher sagt: „Und das Nachtgebet nicht vergessen, Herr Pfarrer!“ Er grinst mit breitem Gesicht, als er die Zelle verlässt und wieder abschließt. Das Licht wird gelöscht. Es ist still. Manchmal hört man ein Schluchzen aus der Finsternis der Zellen. Manchmal dröhnt einen Befehl, der wie ein Faustschlag in die Stille trifft. Gerhard Krause liegt mit wachen Augen und sieht die Ostsee. Er sieht sich und seine Kinder am Strand. Dann dreht er sich auf die Seite. Er kämpft mit sich. Keiner soll seine Tränen sehen. Keiner soll sein Seufzen hören.

Es schmerzt morgens im Gefängnis aufzuwachen, denn der letzte Ort der Freiheit, der Traum, muss dann wieder verlassen werden. Trotzdem ist Untersuchungshäftling Krause vor der Zeit aufgestanden. Heute wird man mit dem Anschein des Rechts Rache an ihm nehmen.

Er hat sich vorgenommen, nicht klein und erbärmlich im Gerichtssaal zu sein. Aber dann bei der Verhandlung ist er nichts mehr. Er ist kein Mensch mehr. Er ist das Objekt grenzenlosen Hasses. Eine Flut von Geschrei, von Verhöhnung, von Verachtung ertränkt jedes Gegenüber. Es kommt nicht mehr darauf an, was der Angeklagte sagt. Die Wahrheit wird hier nicht gesucht. Weil sie gefährlich ist wird gegen sie wird die geballte Faust erhoben und sie wird niedergeschlagen. Nicht wie ein Jurist, sondern wie ein Kämpfer zieht der Oberreichsanwalt in die Verhandlung. Er will zu Boden strecken. Er will besiegen. Gerhard Krause ist wie betäubt. Einen Augenblick muss er bitter über sich selbst lächeln. Hatte er gestern wirklich geglaubt, hier mit dem Leben davon zu kommen? Als das Urteil gesprochen wird, ist er gefasst. Wie von einer fernen anderen Seite hört er, was da verlesen wird. „ … dadurch den Feind des Reiches begünstigt und unsere Wehrkraft zersetzt. Sie werden deshalb mit dem Tode bestraft.“

Zurück ins Leben

Die Tage bis zum Tod sind überschaubar. Irgendwann werden sie kommen und ihn holen. Jedes Drehen des Schlüssels im Schloss, jedes Öffnen der Tür kann bedeuten, jetzt ist es so weit. Jetzt musst du sterben. Anfangs begann jedes Mal sein Herz zu rasen und die Gedanken kannten nur noch Angst. Aber irgendwann hatte Häftling Krause beschlossen, alles in Gottes Hand zu geben. Das hatte ihn ruhiger und fester gemacht. Selbst jetzt, als man ihn aus der Zelle holt, gelingt es ihm sein Innerstes nicht nach außen zu lassen. Er betet sich zur Ruhe. Nur drei Worte stellt er gegen alle Angst. Er spricht sie wieder und wieder: „ Dein Wille geschehe!“ Fast wie die Antwort auf sein Gebet, hört er den Wächter sagen: „ Besuch, von ihrem Anwalt!“

Im Sprechzimmer nimmt der Häftling Krause Platz. Dann darf der Verteidiger den Raum betreten. Der setzt sich und schiebt ein paar Blätter herüber und sagt: „ Es tut mir leid. Die Begründung steht auf dem amtlichen Schreiben.“ Gerhard Krause hält die Briefe in der Hand, die er vor ein paar Tagen nachhause geschrieben hat. Jeder Zeile nach Zingst konnte jetzt die letzte sein. War es ihm auch verboten, Abschied zu nehmen? Er liest den Vermerk auf dem gestempelten Blatt: „Wegen Unleserlichkeit zurück an den Empfänger“. Selbst im Warten auf seinen Tod misstrauten sie ihm. Der Wächter tritt hinzu. Schaut sich alle Papiere an und tritt wieder zurück. Als er den beiden den Rücken dreht, schreibt der Anwalt schnell etwas auf den Rand eines der Papiere. Dann erzählt er unverfänglich, dass keine Nachrichten aus Berlin eingetroffen sind. „Es fallen dort jetzt unzählige Bomben. Sie machen sogar vor Gerichtsgebäuden nicht halt.“ Den zweiten Satz sagt er halblaut und dreht sich um. Der Aufseher räuspert sich. Irgendetwas sehr wichtiges will der Verteidiger noch sagen, aber nicht nur der zum Tode Verurteilte auch der Wärter scheint dies zu spüren. Schließlich steht der nicht umsonst hier. Er hat darüber zu wachen, dass nicht gesagt wird, was nicht gesagt werden darf. Keinesfalls wollte er als Wächter Zeuge einer unerlaubten Nachricht werden. Denn wenn das jetzt geschah, hatte er Meldung zu machen und einen Bericht zu schreiben. Aber der Wachmann will das alles heute nicht mehr, er will pünktlich nach Hause, deshalb ruft er kurzentschlossen „Sprecher beenden“. Der Verteidiger erhebt sich und flüstert: „Ich bete für sie und das übrige tut Gott!“ Als er den Raum verlässt, sagte noch: „Es ist nicht hoffnungslos, Herr Pfarrer!“ Dabei blickt er kurz er auf das Papier, auf das er eben schnell etwas geschrieben hatte. Dann geht er aus dem Raum und Gerhard Krause wird mit seinen Briefen zurück in die Zelle gebracht. So als ordne er die zurückerhaltenen Briefe, sucht er das Blatt mit der Randbemerkung. Er schaut noch einmal zur Tür, durch deren kleines Glasfenster manchmal die Wächter prüfend schauen. Dann entziffert er: „Bombentreffer im Gerichtsgebäude. Vollstreckungsakten verbrannt.“ Obwohl diese Nachricht auf den Briefen steht, die jetzt eigentlich in den Händen seiner Frau und bei seinen Kindern sein sollten, löst sie den ersten freudigen Gedanke innerhalb der letzten 11 Monate aus. „Es ist nicht hoffnungslos“ hört er in Gedanken noch einmal seinen Verteidiger sagen. Immer wieder gibt es jetzt auch Nachrichten von Häftlingen, die Kontakt nach draußen haben. Heute Vormittag hat einer vom Reinigungskommando vor seiner Tür geflüstert: „Der Russe steht vor Berlin!“ Beide Nachrichten hießen: Es gab eine Chance zu überleben! Vielleicht noch ein paar Wochen, höchstens einen Monat konnte es bis zum Kriegsende dauern. Gewiss würden sie kämpfen bis alles in Scherben gefallen war, aber das Ende des Krieges, der Untergang des Reiches war seine Rettung. Und je schneller er kam, umso sicherer kam das Leben zurück. Häftling Krause steigt auf seinen Hocker. Er versucht aus seiner Zelle durch das Fenster ein Stück des Himmels zu sehen. Er sieht ihn nur in kleinen Stücken. Ein Baum versperrt die Sicht. Dabei sieht er, dass es draußen grün wird, dass selbst die Natur aufatmen will. Nein, er ist nicht verloren und er gibt sich nicht verloren; das weiß Gerhard Krause plötzlich. Er will aushalten. Er will zurück und nach dem Ende, jenen Anfang erleben, in dem man endlich frei und ohne Angst die Wahrheit sagen darf. Ganz anders als noch vor einer Stunde betet der Pastor: „ Dein Wille geschehe!“ Diesmal ist es nicht die Angst, sondern Hoffnung, die ihn so beten lässt.

Warum?

Im Mai 1945 weht ein trauriger Friede über den Rest, die Trümmer, des Dritten Reiches. Doch der Frühling kommt wie jedes Jahr. In der Stille nach all dem Kriegsgetöse ist seine Botschaft viel deutlicher zu verstehen. Mit den Blüten des Mai kehrt Pfarrer Krause nach Zingst zurück. Es ist wie das Aufatmen des Lebens nach der langen Herrschaft des Todes. Trotz seiner 58 Jahre ist es Gerhard Krause, als sei es der schönste Frühling seines ganzen Lebens, als würder er ihn ganz persönlich in der Freiheit begrüßen. Er spürt das Aufatmen der Natur nicht nur um sich herum, sondern er fühlt sich eins mit all dem Erwachen. Die ersten Tage der Freiheit gehören der Familie. Doch vier Tage später am Sonntag steht er wieder auf der Kanzel. Er sieht in erleichterte, enttäusche und leere Gesichter. Er will zu Herzen reden. Den Anfang nach dem Ende will er wie eine Auferstehung predigen. Er will vom Licht der Freiheit und der befreienden Wahrheit reden. Er will gegen die Schatten des Krieges sein Wort erheben. Pfarrer Krause fühlt sich befreit und so lebendig, als wäre er selbst auferstanden. Einige in seiner Gemeinde können kaum verstehen, wie einer nach diesem schrecklichen Ende so viel Aufbruchsstimmung verbreiten kann. Schon wieder mischt er sich ein und sagt laut, was er denkt. Eine christliche Partei will er gründen und er tut es. Nach der verhängnisvollen Diktatur der Nazis setzt er sich für demokratische Wahlen ein. Einige nennen ihn unverbesserlich, andere bewundern seinen Mut und seine Kraft. Doch für alle ist offensichtlich: Die Nazis haben den Mann trotz der Todesstrafe nicht zerbrochen. Nicht lange nach seiner Heimkehr nimmt ihn ein Freund nach einem Gemeindeabend beiseite und sagt ihm leise aber bestimmt: „Gerhard, du musst auf deine Worte achten. Du weißt, hier in der russischen Besatzungszone ist das nicht so einfach mit der Freiheit und mit der Demokratie!“ Eine Weile schweigt Gerhard Krause zu diesen freundlichen Mahnungen nachdenklich, dann sagt er: „Ich weiß nicht, ob ich dazu heimgekehrt bin, ob es wirklich klug ist zu schweigen. Entweder glaube ich, dass Gott zur Freiheit des Menschen ihm auch die Freiheit des Wortes gibt, oder mein Beruf bleibt ohne Sinn. „Wenig später ist es fast wie im Februar 1935, als Parteigenossen der NSDAP ihre Propaganda im Ort beginnen und ihm das in einer Gemeindeveranstaltung deutlich machen wollen. Diesmal 1945 kommen die neuen Herren, Kommunisten, ins Pfarrhaus. Ernst und bestimmt versuchen sie dem Pfarrer klar zu machen, dass die Wahrheit jetzt von ihnen verwaltet wird und dass Antifaschisten gerade jetzt zusammenhalten müssten, um den Wiederaufbau nicht zu gefährden. „Warum gefährdet eine christliche Partei, warum gefährdet die Demokratie, warum gefährdet die Wahrheit den Wiederaufbau?“ fragt der Pfarrer die neuen Vertreter der Staatsmacht verständnislos. Einer, der als Kommunist im Gefängnis saß und nun in die Gemeindeverwaltung gesetzt worden ist, antwortet ihm: „Warum, warum, warum? Wer zu viel nach dem Warum fragt, lebt gefährlich!“ Nichts scheint sich geändert zu haben. Pfarrer Krause kann nicht begreifen, dass sich wirklich nichts geändert haben soll. Als sich die Männer der neuen Partei gehen, verabschiedet sich der Geistliche mit einem Liedtext: „Ich weiß woran ich glaube, ich weiß, was fest besteht.“ Einer der Besucher sagt in einem dem Pfarrer bekannten Ton: „Wir wollten sie nur warnen.“ Der Pfarrer sieht jenen Männern hinterher und denkt laut. „Soll das alles wirklich nicht vergangen sein.“ Bei der ersten Wahl holt die christliche Partei auch wegen Pastor Krause sehr viele Stimmen. Pfarrer Krause ist zuversichtlich und er ist sich sicher, dass es einen guten, vielleicht sogar einen göttlichen Grund dafür gibt, dass er heimgekehrt ist, dass er dem Tod entkommen ist.

Zwei Wochen später erhält er ein Schreiben. Er wird nach Stralsund in die russische Kommandantur bestellt. So fährt er in jene Stadt, in der er fast ein Jahr im Gefängnis saß. Bevor er in die russische Kommandantur geht, will er noch einmal zu dem Gebäude, in dem er ein Jahr gefangen gehalten wurde. Er will einen Augenblick das genießen, was er sich damals in seiner Zelle immer vorgestellt hatte: Draußen in Freiheit spazieren gehen und das Leben genießen. Zu seinem Erstaunen scheint das Untersuchungsgefängnis noch die gleichen Aufgabe zu erfüllen, wie zur Zeit der Nazis. Ein russischer LKW fährt vor und an den Händen gefesselte Männer müssen herunterspringen. Einer fällt, weil er sich nicht richtig abstützen kann. Pfarrer Krause will ihm aufhelfen, aber er wird von einem Wächter mit einem Gewehr zur Seite gestoßen, als würde er etwas Verbotenes wollen. Dem Geistlichen ist es als würde das Vergangene wieder Gegenwart sein. Hatte sich wirklich nichts geändert? Sehr nachdenklich macht er sich auf und beginnt über seine Vorladung nachzudenken.

Er soll sich im Rathaus der alten Hansestadt melden. Bevor er in das Gebäude tritt, schaut er an den Ziergiebeln des Bachsteingebäudes hinauf. Alles scheint ehrwürdig und stattlich. Nur die Wasserspeier des Hauses scheinen wie Ungeheuer. Auf einem Flur verharrt der Pfarrer in all der militärischen Geschäftigkeit, dann zeigt er dem ersten Besten seine Vorladung. Der erklärt nichts, sondern weist nur mit dem Kopf auf das letzte Zimmer des Ganges. Entsetzt und fassungslos liest er das Schild neben der Tür an die er verwiesen wurde: NKWD. Er hatte diese vier Buchstaben schon mehrmals gehört. Immer hatten sie Angst und Schrecken ausgelöst. Manchmal wurden Leute abgeholt und in Lager dieser Abteilung des russischen Innenministeriums gebracht. Oft hatte man Hitlers KZ und Gefängnisse einfach übernommen. Nur hieß es, jetzt würden die großen Nazis und Kriegsverbrecher dorthin gebracht. Warum also hatte man ihn hierher bestellt? Pfarrer Krause wagt es nicht, an der Tür zu klopfen. Er ahnt, dass ihn hinter der Tür etwas erwartet, das ihn bedroht, das ihn in Angst und Schrecken versetzen soll. Dann geht die Tür auf. Ein russischer Soldat kommt auf ihn zu und lässt sich seinen Brief zeigen. Sofort verschwindet er wieder hinter der Tür. Es ist eine Tür die von innen gepolstert ist. Keiner darf hören, was hinter ihr geschieht. Pfarrer Krause durchleidet die folgenden Minuten. Hier bleiben oder nur weit weg laufen, so fliegen seine Gedanken hin und her. Dann wird die Tür erneut geöffnet. Wie vor 26 Monaten bei seiner ersten Vernehmung durch die Gestapo wird er in ein Zimmer geführt. Wieder darf er sich nicht setzen. Selbstgefällig sitzt ein russischer Offizier hinter einem schweren Schreibtisch. Er beginnt ihn auf russisch anzusprechen. Nach einer Weile schweigt er und sieht einen untergebenen Soldaten an. Es ist der Dolmetscher, der übersetzt: „Towarisch Krause, ist Ihnen die Haft keine Lehre gewesen?“ Der Offizier schüttelt zu den deutschen Worten den Kopf, als wollte er sie unterstreichen. Dem Pfarrer stockt der Atem. Nichts, kein Wort kann er sagen. Wieder hört er russische Worte, denen man anhört, dass sie ein Befehl sind und keine Widerrede dulden. „Wir sagen jetzt, was die Wahrheit ist!“ wird übersetzt. Nun spricht der Offizier den Geistlichen direkt an: „Estch!“ befielt er. Pfarrer Krause zieht die Schultern hoch und schaut den Übersetzer an. Der sagt es verständlicher: „Sie sollten für sich selbst und ihre Familie endlich vernünftig werden.“ Dann wird der Geistliche wieder nach Draußen gebracht. Wie ein Verfolgter verlässt er die Stadt. Nein, sie sollen ihn nicht noch einmal kriegen.

Im Jahr 1949 stellt Pfarrer Krause den Antrag auf vorzeitigen Ruhestand, der mit 1. Januar 1950 genehmigt wird. Im selben Jahr stirbt er.

Datenschutz    Impressum    Seitenanfang